„Gemeinsam mit Gott hören wir einen Schrei: Armut und Ausgrenzung als Herausforderung für die Kirche und ihre Caritas“

Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz

Studientag Herbst 2016 im Priesterseminar Fulda 21. September 2016
Thema: Kirche und ihre Caritas an der Seite der Armen – 3 Modelle armutsorientierter Pastoral: Allgemeine Lebensberatung, Sozialzentrum und Arbeiterpriester

Sehr geehrte Mitglieder der Deutschen Bischofskonferenz,
Sie haben mich eingeladen, um auf Ihrer Konferenz zu Armut und Ausgrenzung über das „Modell der Arbeiterpriester“ zu sprechen. Diese Einladung hat mich gleichzeitig überrascht und gefreut. Ich danke Ihnen, dass ich hier sprechen darf.

Das „Modell der Arbeiterpriester“
Wenn Sie erlauben, nehme ich zwei kleine Korrekturen an diesem Titel „Modell der Arbeiterpriester“ vor. Ich überschreibe meine Ausführungen mit:
„Der Ansatz der Arbeitergeschwister“.
Modell ist ein zu großes Wort. Es ist eher ein Ansatz, ein Versuch, ein oft sehr persönlicher Weg. Und unsere Gruppe, unsere kleine Bewegung hat sich verändert. Wir sind Arbeitergeschwister geworden. Gott sei Dank. Dazu gleich noch mehr.
Zunächst kurz zu mir selbst: TS, Priester des Bistums Limburg. Studiert habe ich in Frankfurt und Rio de Janeiro. Geweiht wurde ich 1986 von Bischof Kamphaus. 3 Jahre Kaplan, danach (ab 1989) Arbeit im Lager und (freigestellter) Betriebsrat. Das Unternehmen ging dann in die Insolvenz. Ich war arbeitslos, Gesellenprüfung, Lagerarbeiter und wieder arbeitslos. z.Z. befristet bei MISEREOR (übrigens ein wunderbares Werk unserer Kirche) für die internationale Fastenaktion und jetzt wieder auf Arbeitssuche. Seit 10 Jahren bin ich ehrenamtlich Leitender Priester in drei Frankfurter Gemeinden.

Sie haben 3 Fragen gestellt. Darin sind angesprochen „Aspekte, die aus Sicht der Bischöfe von Interesse sind“, so hat es Herr Stücker Brüning formuliert. Ich will versuchen, diese einigermaßen kurz und exakt zu beantworten.

1. Ansatz, Thema und Problemhintergrund: Vor welchem Hintergrund ist das Projekt entstanden? Wie lauten die zugrundeliegenden theologischen Überzeugungen?

Die ersten Versuche der Arbeiterpriester gehen auf Jaques Loew zurück. Ein Dominikaner, der als Docker im Hafen von Marseille ab 1941 gearbeitet hat.
Etwas später hat die französische Bischofskonferenz Priester unter die französischen Zwangsarbeiter für die deutsche Rüstungsproduktion eingeschleust, von denen einige dann nach ihrer Rückkehr als Arbeiterpriester anfingen und dabei Frankreich als Missionsland entdeckten.
In Deutschland begannen die Ersten Ende der 60er, Anfang der 70 Jahre; beeinflusst von Frankreich. In meiner Generation kam der Impuls aus Lateinamerika hinzu. Heute nennen wir uns Arbeitergeschwister. Wir sind Frauen und Männer, Priester, Laien, Ordensleute und evangelische Pfarrer, die sich vor allem einfache Jobs gesucht haben: in der Autovermietung, in der Spülküche, im Supermarkt, im Metallbetrieb, im Taxi, als Hausmeister, im Lager. Unsere Rentner sind weiter engagiert oft in sozialen Bewegungen, auch für Exerzitien auf der Straße im wahren Unruhestand. Wir treffen uns zweimal im Jahr auch mit Freunden aus der Schweiz, den Niederlanden und aus England. An Pfingsten nehmen einige von uns am internationalen Treffen teil. Wir sind wenige, keine Massenbewegung, aber eine Bewegung in der Masse.
Ich rede hier für mich, nicht im Namen des Kreises. Gleichwohl haben einige wichtige Gedanken beigesteuert.
Was also sind die grundlegenden theologischen Überzeugungen?
1.1. Drei Impulse aus Frankreich: Presence, vivre avec, gratuité.
Presence: Da-sein, einfach da sein, den Alltag teilen. Die Mühen der Arbeit. Den Akkord schaffen. Den Stress bestehen. Was Gutes schaffen. Nah dran sein. Dem Gottesnamen folgen: „Wie heißt du?“, fragt Mose seinen Gott und der antwortet: „Ich bin, der ich bin da.“
Vivre avec: mitleben, nicht so sehr vivre pour, für jemanden leben. Das Leben von Nazareth leben. Kein sozialarbeiterischer Ansatz. Ins Gleiche gehen. In Lateinamerika nennt man solche Leute: com-pan-heiro. Com und pan. Einer, der das Brot teilt und den Alltag. Und auch das Brot der Eucharistie. Dabei spüren: ganz nah dran und auch immer wieder unheilbar privilegiert (Madeleine Delbrel).
Gratuitè: Keine Strategie, auch keine Rekrutierung für die Kirche. Der Glaube ist umsonst. Gratis. Er ist Gnade. Großes Vorbild ist Paulus (lange vor Jaques Loew.), der nach eigener Aussage niemanden zur Last fallen wollte und gerade so das Evangelium Christi verkündet hat. (1 Thess 2,9)
1.2. Ortswechsel:
Aus der Kirche mit ihren Sicherheiten und Privilegien herausgehen. Aus der Sakristei in den Betrieb. Aus der bürgerlichen Existenz aussteigen. Option für die Armen. Aus der Sicht der Benachteiligten die Welt sehen lernen. Karriere nach unten: Philipperhymnus. (Phil 2,5 ff) “Er war Gott gleich…..“ Äußerer Wechsel – innere Kenosis. Papst Franziskus in Evangelii Gaudium: Iglesia en salida, Kirche nicht nur „im Aufbruch“, sondern aus sich herausgehend. Das ist ein andauernder Prozess.
Dabei entdecken: Gott ist schon da. Nicht selten in denen und bei denen, die gar keiner Kirche oder Religion angehören. Der Missionar muss Gott nicht irgendwo hinbringen. Es soll und kann Gott entdecken und seine Gegenwart aufspüren. Darin andere Sprachen lernen. Von den Kolleginnen und Kollegen lernen: von ihrer alltäglichen Solidarität, ihrem Widerstandsgeist, ihrem trotzigem Selbstwertgefühl, ihrer Selbstbehauptung. Auch von den Initiativen und Organisationen, die man dort trifft, die mit Kirche wenig zu tun haben und mit denen wir doch die Vision von der Gerechtigkeit teilen.

1.3. Reich Gottes Orientierung.
Es geht nicht um die Kirche. Es geht nicht um uns selbst. Es geht um Gottes gerechte Welt, für die die Kirche – hoffentlich – ein Werkzeug ist. Am Reich Gottes soll die Kirche sich ab-schaffen. Durchaus im doppelten Sinne. Es geht nicht um den Sonntag, es geht um Werktagschristentum. Es geht um das achte Sakrament: Das Sakrament des Bruders – und der Schwester, wie es H.U. von Balthasar genannt hat.
„Sorgt Euch zuerst um das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit, und alles andere wird Euch hinzugegeben.“ (Mt 6,33). Das ist die Priorität. Unser Tun soll einer „RG-Verträglichkeitsprüfung“ standhalten. Hier kommt die Politik ins Spiel: Die Sozialforumbewegung ist uns nahe: „Eine andere Welt ist möglich“ oder der Satz des baden-württembergischen IG Metallvorsitzenden Willi Bleicher nach dem Krieg als er aus dem KZ Buchenwald kam: „Du sollst dich nie vor einem lebenden Menschen bücken“, oder mit einer anderen Formulierung aus den Gewerkschaften gesagt: Weder Herr noch Knecht sein. Und all das immer unter dem oft erlittenen „eschatologischen Vorbehalt“. Sie können mir glauben, eine Insolvenz, bei der 2000 Kolleginnen und Kollegen in die Arbeitslosigkeit gehen, tut richtig weh. Da beginnt man dann am Reich Gottes zu zweifeln und noch mehr daraus zu hoffen. Es bleibt die Perspektive. Was sonst?
Einer ihrer Mitbrüder im Bischofsamt, Pedro Casaldáliga hat es so gesagt: „Als neue Menschen in einer neuen Kirche für eine neue Welt“.
Da-Sein bei den Kolleginnen und Kollegen, Ortswechsel in die Arbeit, Reich Gottes-Orientierung = Das sind nicht die einzigen, aber wesentliche theologische Stichworte unseres Lebens.

2. Bezug zu Armut und Ausgrenzung
Wie wird Armut bzw. Ausgrenzung wahrgenommen und bekämpft? Welche methodischen Ansätze werden dabei verfolgt? Wie lauten die konkreten Ziele in der Armutsbekämpfung?
Hier fällt die Antwort schon schwerer, nach dem Hören auf die theologischen Stichworte ist das vielleicht auch klar. Armutsbekämpfung ist ein schwieriges Wort. So schnell wird daraus die Armenbekämpfung. Es gibt Strategien, die wollen die Armut abschaffen, in dem sie die Armen abschaffen. Und da ist Vorsicht geboten. Bei Jesus Sirach heißt es: „schlecht über die Armen reden nur Menschen, die Gott verachten.“ (Sir 13,24). Elend muss man bekämpfen und auch „den Reichtum, an dem Unrecht klebt“ (Sir 13,24). Ich will aber hier nur ein Fragezeichen an Ihre Frage nach der Armutsbekämpfung machen.
Das Spezifische unseres Zugangs zu Armut und Ausgrenzung: Armut trotz Arbeit, oder auch durch Arbeit. Der niedrige Lohn, in Kombination mit flexiblen Arbeitszeiten, die einen zweiten Job so schwierig machen, führt zu immer gleichen Erfahrung: Am Ende vom Geld ist noch Monat. Am Ende vom Monat steht der teure Dispokredit. Am Ende vom Dispokredit steht die private Verschuldung. „Negativ-Vermögen“. (Verweis auf Bude?!)
Die Ausgrenzung beginnt oft zunächst schon im Betrieb: Leiharbeitnehmer, Werkverträge. Die arbeiten mit und gehörst nicht richtig dazu. Die Ausgrenzung geht weiter mit dem befristeten Vertrag. Mit der Unsicherheit, was wird nach dem nächsten Monatsende. Mit der Hoffnung, dass noch in letzter Minute der Chef die Verlängerung bekanntgibt. Die Ausgrenzung endet in der Arbeitslosigkeit. Am Anfang denkst du: Du hast ein Problem. Du hast keine Arbeit. Schnell lernst du: Du bist das Problem.
Und irgendwann beginnt dann Hartz IV und all die Aktivierungsmaßnahmen, in denen immer mitschwingt: Du bist schuld. Du bemühst dich nicht genug. Du bist nicht flexibel genug. Du bist zu anspruchsvoll.
Eine solche Erwerbsbiographie wird nicht selten begleitet von der Armut der eigenen Kinder. Es schmerzt eine Mutter und einen Vater, wenn der Schulausflug der Tochter zu teuer ist.
Und am Ende eines solchen Lebens, mal drinnen, mal draußen, steht ziem-lich verlässlich die Altersarmut, die in der Regel ein weibliches Gesicht hat.
Der Papst hat Recht: „Diese Wirtschaft tötet.“ Es ist nicht der physische Tod, auch wenn der bei Armen oft früher kommt. Es ist der soziale Tod so vieler, zu vieler; auch hier bei uns in Deutschland.
Wir Arbeitergeschwister haben dagegen keinen methodischen Ansatz. Und auch keine, eigenen, organisierten, konkreten Ziele der Armutsbekämpfung. Wir sind da. (Presence…) Mitten drin. Wir sind Zeitgenossen. Und Bündnispartner.

Manche von uns engagieren sich in der Gewerkschaft als Vertrauensleute. Manche werden als Betriebsräte gewählt und versuchen, was sie können. Einige engagieren sich in Stadtteilinitiativen und Bewegungen der Zivilgesellschaft. Manchmal kennen wir eine Beratungsstelle, oder ein Frauenhaus. Manche öffnen ihre eigenen Wohnungen oder können eine vorübergehende Unterkunft vermitteln. Hier kann insgeamt der Kontakt zu professionellen BeraterInnen, z.B. von der Caritas sehr hilfreich sein.
Verkünde das Evangelium, wenn nötig durch Worte.
Vor diesem Hintergrund werden Sie sicher verstehen, wie schwer es ist, Ihre dritte Frage zu beantworten:

3. Bisherige Ergebnisse, Erfolgs- bzw. Misserfolgsfaktoren, Bewertung
Was wurde bisher erreicht, wie sind die weiteren Aussichten? Welche Faktoren sind für den Erfolg wichtig, welche behindern den Erfolg?

Erfolg!?? Was ist das? Am Ende eines Gesprächsabends mit einer KAB Gruppe sagte der Vorsitzende: Danke, dass du da warst. Ich weiß gar nicht, ob ich Dir – wie üblich – viel Erfolg wünschen soll.
Im Anbetracht der biblischen Rede von den Talenten, ist aber die Frage konkreter Ergebnisse unseres Engagements sicher nicht einfach vom Tisch zu wischen. Auch nicht, wenn wir die Anliegen unserer KollegInnen ernst nehmen. Sie wollen und sie brauchen konkrete Ergebnisse: Mehr Lohn, eine verlässliche Arbeitszeit, eine bezahlbare Wohnung, einen Krippenplatz für den Sohn und einen Ausbildungsplatz für die Tochter.
Das Reich Gottes ist nicht nur „nicht indifferent gegenüber den Welthandelspreisen“, um einmal die Würzburger Synode zu zitieren, es wird eben auch in sozialer Sicherheit, in einem funktionierendem Sozialstaat, in solidarischen Netzwerken, im Familienzusammenhalt und gerechten, gesellschaftlichen Lösungen konkret erfahrbar. Solche Erfolge sind reichgotteskompatibel und sie sind ein Segen, vielleicht sogar eine Erfahrung von Gnade.
Diese Erfahrung von Gnade und Glück, die Hoffnung machen kann, das hat Dietrich Bonhoeffer gewusst, macht man nur nach der Übernahme konkreter Verantwortung und auch nach vielen Niederlagen.
Deshalb entspricht unserem Glauben nicht so sehr die Mühe um den konkreten Erfolg, so sehr man ihn um der konkreten Menschen willen wollen muss. Es geht eher darum, was Vaclav Havel einmal so gesagt hat: „Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.“

Unser Ansatz als Arbeitergeschwister ist nicht richtig oder falsch, er soll Sinn machen. Es ist mitten drin im Leben mit all seinen Widersprüchen. Auch unseren eigenen. Er ist Teil einer „verbeulten Kirche“. Er ist der bescheidene Versuch als Personen auf das Evangelium zu antworten. Er ist ein Weg, auf dem wir Schritt für Schritt der Utopie des Reiches Gottes und seiner Gerechtigkeit folgen. Heutzutage haben wir oft das Gefühl, dass wir ihr nicht näher kommen. Macht sie dennoch Sinn, diese Utopie? Ja, sie macht uns gehen. Als die „vom neuen Weg“ (Apg 9,2), wie sie in der Apostelgeschichte verschiedentlich genannt werden. So hat es bekanntlich ja mal angefangen.

Danke für die Aufmerksamkeit.